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Veröffentlicht 14. Juni 2013

Wird zu viel operiert?

Die Schweiz ist Operationsweltmeister. Bei den fünf häufigsten Operationen in den Industrieländern liegt die Schweiz fast bei jeder Operation vorne. Aber ist die Schweizer Bevölkerung deshalb auch gesünder?

Ja, ist sie. Aber nicht aus diesem Grund. Es ist eher dem grösseren Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung, der «noch» relativ ausreichenden Versorgung mit guten Hausärzten und der guten Erreichbarkeit von medizinischen Zentren (auch Regionalspitäler) zu verdanken, dass die Bevölkerung subjektiv und objektiv eine gute Gesundheitsversorgung ihr Eigen nennen kann. Der medizinische, vor allem auch der operationstechnische, Fortschritt in den vergangenen 10 Jahren war immens. Viele Operationen, die früher eine massive, fast lebensbedrohliche Belastung des Patienten dargestellt haben, sind heute durch die Anwendung z.B. der Schlüssellochchirurgie, besserer technischer Möglichkeiten und besserer Operationsnachsorge zu risikoärmeren Eingriffen geworden. Auch deshalb fällt es dem einzelnen Chirurgen heute leichter, dem Patienten, sollte er einen gewissen Leidensdruck haben, zu einer Operation zu raten, um seine Situation zu verbessern.

Zudem wird die Bevölkerung älter. Von Seiten meines Fachgebietes kommen natürlich Knochenbrüche oder Gelenkverschleiss bei älteren Patienten häufiger vor als bei jüngeren. Da es immer mehr ältere Menschen gibt, steigt natürlich auch die Anzahl der notwendigen Operationen. Aber: Auch in der Schweiz ist festzustellen, dass an Orten mit grossem chirurgischen Konkurrenzangebot viel häufiger bestimmte Operationen bezogen auf die dortige Bevölkerung durchgeführt werden als an Orten, wo dieses Überangebot nicht existiert.

Damit in einer Agglomeration auch noch der 15. Wirbelsäulenchirurg gut leben kann, wird er wahrscheinlich seinem Patienten – wenn zwei gleichwertige Therapiemöglichkeiten existieren – wohl eher zur operativen Methode raten.

Aus diesem Grund ist es erforderlich, dass wir in der Ausbildung unseres medizinischen Nachwuchses darauf Wert legen, dass diese wieder den ganzen Menschen wahrnehmen. Die Technisierung der Medizin, die sehr zu begrüssen ist, darf nicht dazu führen, dass irgendwann Röntgen- oder MRI-Bilder statt Patienten operiert werden. Nicht jeder Meniskusriss auf dem MRI (Kernspintomografie) muss unbedingt operativ versorgt werden!

Der Chirurg hat die Aufgabe, die Beschwerden des Patienten mit dem körperlichen Untersuchungsergebnis und den bildgebenden Verfahren wie Röntgen oder weiteren Spezialuntersuchungen in Einklang zu bringen. Nach dem Aufzeigen der verschiedenen, auch nicht operativen, Möglichkeiten ist es dann eine Entscheidung letztendlich des Patienten, welcher Weg eingeschlagen wird. Ein guter Chirurg wird auch niemals etwas gegen das Einholen einer Zweitmeinung haben.

 

Dr. Michael Kettenring


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