Aggression – Schmerz als Aggressionsauslöser
- Text: Ernst Hofmann, Unterkulm
- Bild: PublicDomainPictures auf Pixabay
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Aus der experimentellen neurowissenschaftlichen Hirnforschung der letzten Jahre, insbesondere durch die Anwendung von Hirnscannern, ergeben sich neue Erkenntnisse zum Verhaltenssystem der Aggression. Die Aggression ist nicht, wie fast seit hundert Jahren angenommen, ein angeborener Trieb (Aggressionstrieb), sondern ein Abwehrsystem gegen zugefügten Schmerz. Sie verdankt ihre evolutionäre Entstehung der Notwendigkeit, Schmerzen abzuwehren, körperliche Unversehrtheit zu bewahren und lebenswichtige Ressourcen zu verteidigen.
Bei sozialen Lebewesen wie dem Menschen zählen Akzeptanz und Zugehörigkeit zu den lebenswichtigen Ressourcen. In wissenschaftlichen Studien konnte in den letzten Jahren gezeigt werden, dass auch soziale Demütigungen und persönliche Ausgrenzung vom menschlichen Gehirn wie körperliche Schmerzen erlebt werden. Dabei werden exakt die gleichen Hirnareale (Aggressionssysteme) aktiviert und tangieren die Schmerzgrenze. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht vom Gesetz der Schmerzgrenze. Wenn die Schmerzgrenze eines Lebewesens überschritten wird, kommt es zur Aktivierung des Aggressionssystems im Gehirn und zu aggressivem Verhalten.
Das neurologische Aggressionssystem erhält seine Informationen aus der Aussenwelt. Wenn Schmerzen angedroht oder tatsächlich zugefügt werden, kommt es im Gehirn zur Aktivierung der Angstzentren (Mandelkerne) sowie der Ekelzentren (Insula). Ist die Bedrohung gross, so alarmiert das Angstzentrum weitere Alarmregionen des Gehirns, das Stresszentrum (Hypothalamus) und das vegetative Erregungszentrum (Hirnstamm). Bei Reptilien käme es nun zu einer sofortigen aggressiven Reaktion. Bei Säugetieren, insbesondere beim Menschen, ist ein extrem wichtiger Zwischenschritt vorgeschaltet. Bevor sich die Aggression nach aussen bahnt, durchläuft sie eine Kontrollschleife über das Stirnhirn (Präfrontaler Cortex). Hier wird abgeschätzt, ob die vorhandene aggressive Energie in angemessenem Verhältnis ausagiert wird, also eine Art Impulskontrolle. Dabei spielen bei der Einschätzung der Reaktion persönliche Schmerzerfahrungen eine wichtige Rolle.
So steht alltägliche Aggression und Gewalt oft in Zusammenhang mit fehlendem persönlichem Respekt, Verletzung der Ehre oder Beschädigung der Reputation. Schmerzhafte Ausgrenzung findet aber auch statt, wenn ein Mensch keine zwischenmenschliche Bindung hat oder ohne soziale Vernetzung lebt, was zu erhöhter Aggression, Angststörung oder Depression führen kann. Aggressive Impulse richten sich nicht immer an denjenigen Menschen, der den Provokationsreiz verursacht hatte, sie können auch auf eine andere Person gerichtet oder zeitlich verschoben werden. Diese Verschiebungen sind in vielen Fällen irritierend und scheinen «sinnlos» und «nicht begründbar». Experimente zeigen, dass Personen, die von Kollegen nicht aufgenommen oder ausgegrenzt werden, sich anschliessend gegenüber unbeteiligten Dritten aggressiver und weniger sozial verhalten. Die Wut der gereizten Individuen entlädt sich dann häufig ersatzweise an hierarchisch niedereren oder schwächeren Dritten.
Nicht alle Menschen sind gegenüber körperlichen Schmerzreizen und sozialen Schmerzen gleich empfindlich. Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass Personen mit hoher Empfindlichkeit gegenüber körperlichen Schmerzen auch eine höhere Sensibilität gegenüber sozialer Zurückweisung zeigen. Das Aggressionssystem reagiert auch, wenn wir beobachten, wie jemand anderem wehgetan wird. Damit erklärt sich, warum es uns auch dann wütend und aggressiv macht, wenn einer anderen Person Leid zugefügt wird. Mitleid und Trauer erzeugen in uns also ebenso ein Schmerzempfinden.
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