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Veröffentlicht 31. Dezember 2024

Die Welt im Finger – ein komplexes System

  • Text und Bild: Ernst Hofmann, Unterkulm
  • Urheber-/Nutzungsrechte: Link öffnen

Natürliche Systeme sind etwas höchst Lebendiges, Komplexes, die etwas Dynamisches, niemals Abgeschlossenes sind. Sie existieren nie für sich allein, sondern sind vernetzt. Sie sind mit Unter- und Obersystemen zu einem Wirkungsgefüge verflochten, dessen intelligente Organisation das eigentlich Geheimnisvolle ist.

Am Beispiel eines menschlichen Fingers erfährt man, wie eine Fülle eng miteinander verschachtelter Systeme wirksam ist. Der Finger ist eines der feinfühligsten Bewegungsorgane. Er führt nicht nur ein Eigenleben, sondern ist auch in der Lage, innerhalb von Millisekunden auf die Bedürfnisse des ganzen Organismus Mensch zu reagieren. Ja, er kann sich bei Verletzung durch Wundheilung selber verarzten und regenerieren. Aufgrund der ineinander vernetzten Einzelsysteme können wir unserem Finger befehlen zu winken, auf etwas zu zeigen oder auf einer Gitarre ein virtuoses Stück zu spielen. Der Finger ist ein hochkomplexes System, das mit unzähligen Elementen wie Muskeln, Sehnen, Knochen, Rezeptoren für Temperatur, Druck, Berührung und Schmerz, Schweiss- und Talgdrüsen, Nerven, Blut- und Lymphgefässen und Zellen rund um die Uhr zusammenarbeitet. Dabei werden einzelne Bewegungsabläufe, Sinneswahrnehmungen und Tausende chemische Reaktionen ermöglicht. Nur der winzigste Teil seiner Tätigkeit ist uns dabei bewusst.

Das komplexeste aller Untersysteme des Fingers sind die Zellen. Insgesamt gibt es in einem Finger mehr als eine Milliarde Zellen in über hundert verschiedenen Typen wie Nerven-, Blut-, Muskel-, Drüsenzellen etc. Dabei enthält jede Zelle das komplette genetische Programm eines Menschen in den Chromosomen. Sie sind Steuerzentrale für alles Geschehen mit einer Bibliothek von Tausenden Informationen (Gene). Schon ein simpler Finger ist also bereits ein hochkomplexes System mit vielen Mikrosystemen. Alle Untersysteme des Fingers sind wie auch der Finger ein Untersystem der Hand, diese des Menschen, dieser einer Familie, diese einer Gesellschaft und diese wieder ein Subsystem der ganzen Biosphäre. Trotz des komplizierten Bauplans verstehen wir mit dem Finger erfolgreich umzugehen: Wenn er zeigt oder winkt, wenn er schreibt oder malt oder wenn er Gitarre spielt.

Im alltäglichen Sprachgebrauch nutzen wir häufig die Adjektive «kompliziert» oder «komplex», um ein Problem oder eine Situation zu beschreiben, welche wir nicht genau verstehen. Doch kompliziert und komplex bedeutet nicht dasselbe.

Technische Probleme sind häufig komplizierte Probleme. Mit entsprechendem Wissen und ausreichender Erfahrung kann man die kompliziertesten Probleme verstehen. Eine charakteristische Eigenschaft von komplizierten Problemen ist, dass Ursache und Wirkung in direktem Zusammenhang stehen, sodass Experten wie ein Uhrmacher bei einer defekten Uhr relativ rasch die genaue Ursache bestimmen und das Problem beheben kann.

Bei komplexen Systemen kommen anstelle einer Ursache mehrere verschiedene Ursachen zusammen, können sich gegenseitig beeinflussen und stehen in Wechselwirkung zueinander. Selbst für Experten ist nicht eindeutig und abschliessend ermittelbar, welche Ursache welche Wirkung erzeugt. So ist beispielsweise das Wetter, trotzt aller Forschung und leistungsstarken Supercomputern, nicht abschliessend vorhersehbar. Ändert sich nur eine einzige Anfangsbedingung, so könnte sich auch das gesamte Wetter ändern. Als sogenannter «Schmetterlingseffekt» bezeichnet man eine Kettenreaktion, die sich so weit aufschaukeln kann, dass der anfänglich kleine und harmlose Flügelschlag des Schmetterlings, als Tornado auf der anderen Seite der Welt endet.

 


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