Digitale Dorfchronik – Eintrag des Monats: «Bad Moskau» am Hallwilersee
- Text: Simon Steiner
- Bild: zVg.
Das Arbeiterstrandbad Tennwil von 1935
Das Arbeiterstrandbad Tennwil im Jahr 1935 (Baumann 1975).
Das Arbeiterstrandbad Tennwil ist ein schweizweites Unikum, das auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zurückgeht. In den 1920er-Jahren setzte am Hallwilersee der Bau von Wochenend-, Ferien- und Bootshäusern ein. Meist im Besitz wohlhabender Bürger, nahmen sie bald immer mehr Teile des Ufers in Anspruch. Der sozialdemokratische Oberrichter Fritz Baumann (1894 – 1992), der selber aus dem Seetal stammte, beobachtete diese Entwicklung mit Sorge. Um den einfachen Leuten einen Zugang zum See zu sichern, ergriff er 1934 die Initiative zur Errichtung eines eigenen Strandbads für Arbeiterinnen und Arbeiter.
Seit dem Landesstreik von 1918 hatte sich in der Schweiz die Kluft zwischen Unternehmern und bürgerlichen Angestellten einerseits und der Arbeiterschaft andererseits verstärkt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter waren in Gewerkschaften, aber auch in eigenen Sport- und Freizeitvereinen organisiert. Die bürgerlichen Zeitungen reagierten scharf auf die Strandbad-Plan. Sie warfen dem «roten Oberrichter» vor, den Klassenkampf zu schüren. «Nachdem auf allen Sportgebieten, beim Schachspiel, auf dem Gebiete des Radiobastelns für die marxistische Arbeiterschaft besondere Organisationen geschaffen worden sind, soll nun die Klasseneinteilung der Bevölkerung auch beim Sonnen- und Wasserbaden eingeführt werden», hiess es etwa im Brugger Tagblatt. «Uns scheint diese neuerliche Schöpfung des Klassenkampfs wenig glücklich in einer Zeit, da unserem Volke nichts so sehr mangelt, wie das Gefühl der Einigkeit und des Zusammengehörens.» Auch ein Leserbriefschreiber im Aargauer Tagblatt störte sich daran, dass «der schöne Heimatsee in politische Sektoren eingeteilt werden» sollte, und argumentierte, der «wirkliche Arbeiter» habe ohnehin keine Zeit, um am See baden zu gehen.
Hürden in letzter Minute
Tatsächlich war das Interesse in der Arbeiterschaft zunächst bescheiden. Die Wirtschaftskrise, die eine hohe Arbeitslosigkeit mit sich brachte, lastete schwer auf den Arbeiterfamilien. Für Idealismus blieb wenig Zeit. Auch die Finanzierung des Projekts war schwierig, nachdem die Kantonalbank den in Aussicht gestellten Kredit doch nicht bewilligte. Dennoch gelang es Fritz Baumann, genügend Geld und Unterstützung aus arbeiternahen Kreisen wie dem Turnverband Satus, den «Naturfreunden» oder dem Arbeiter-Touring-Bund zu bekommen. Auf dem Platz neben der Mündung des Bettlerbachs konnten 10 000 Quadratmeter Land erworben werden. Kernstück der Anlage war ein Betriebsgebäude aus armiertem Beton, das nach amerikanischem Vorbild in neuartiger Bauweise erstellt wurde. Die Gesamtkosten betrugen 46 000 Franken.
Das zweite Strandbad in der Gemeinde Meisterschwanden nach dem Strandbad Seerose von 1928 wurde am 7. Juni 1935 eingeweiht. Dabei wäre es beinahe in letzter Minute verhindert worden: Als die Anlage mitten im Bau war, intervenierte der Kanton. Die Baudirektion verlangte ein Bewilligungsgesuch und stellte eine Reihe von Bedingungen auf. Der Architekt beantragte einen Zusatzkredit von 200 Franken, um schnellziehenden Zement anzuschaffen und das Dach des Betriebsgebäudes innert zwei Tagen zu betonieren.
Die Anlage konnte schliesslich bestehen bleiben. Noch im Jahr 1935 erliess der Kanton eine Hallwilersee-Schutzverordnung, nachdem Natur- und Heimatschützer den wachsenden Druck auf den See durch die entstehende Freizeitkultur beklagt hatten. Auch in der lokalen Bevölkerung wurde immer wieder Unmut über das «Plägern und Treiben» am See laut – man hatte das Gefühl, vor allem an Sonntagen von Erholungssuchenden überflutet zu werden.
Der Zeltplatz in Tennwil in den 50er/60er-Jahren (Stadtarchiv Baden).
Überblick über das Arbeiterstandbad 1970 (ETH-Bibliothek, Bildarchiv).
Vom einfachen Bad zum Campingplatz
In den ersten Jahren konzentrierte sich das Arbeiterstrandbad auf den Wochenendbetrieb. Die Mehrheit der Besucherinnen und Besucher reiste mit dem Velo an. Die Finanzen waren knapp, doch dank viel ehrenamtlichem Einsatz konnten die anfallenden Arbeiten bewältigt werden. Die Tagung der Sozialistischen Jugend an Pfingsten 1936 sollte zum ersten grösseren Anlass werden in einer Reihe von Treffen und Ferienlagern. Die Zeltübernachtungen nahmen mit den Jahren zu, später trafen erste Wohnwagen ein. Schliesslich wurde ein offizieller Campingplatz errichtet, der dem Strandbad auch zu einer solideren finanziellen Basis verhalf.
Der fortlebende Pioniergeist schlug sich beispielsweise im Bau einer eigenen kleinen Kehrichtverbrennungsanlage in einer Zeit nieder, als es in Aargau noch keine solche gab: Zwei aufeinander geschweisste Fässer bildeten den Hochofen, in dem man Abfall verbrannte. Oder auch in zwei Duschen, die ihr Warmwasser aus Sonnenwärme bezogen, wofür man Heizschlangen auf dem Dach ausgelegt hatte.
Im Lauf der Jahrzehnte wurde das Arbeiterstrandbad schrittweise ausgebaut, die Infrastruktur an die sich wandelnden Bedürfnisse angepasst. Ein Betriebsleiter-Paar wurde angestellt, der Kiosk vergrössert und später durch ein Selbstbedienungsrestaurant ergänzt, das lange auf alkoholische Getränke verzichtete. Dieser Verzicht erfolgte ganz im Sinn von Fritz Baumann und bedeutenden Kreisen der Arbeiterbewegung, die den Alkoholkonsum ablehnten. Ihr Motto lautete: «Der denkende Arbeiter trinkt nicht, der trinkende Arbeiter denkt nicht.» Der Zukauf von Land ermöglichte schliesslich eine Verdoppelung der Arealfläche, was auch die Anlage eines grösseren Parkplatzes erlaubte.
Abschied vom Klassenkampf
Trotz der Verwurzelung in der Arbeiterbewegung stand das Bad immer allen gesellschaftlichen Kreisen offen – unabhängig von ihrer politischen Gesinnung. Der Klassenkampf wurde bereits vor dem Zweiten Weltkrieg dadurch entschärft, dass die Bevölkerung in Anbetracht der äusseren Bedrohung zusammenrückte. In der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit begann das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft angesichts der Verlockungen der Konsumwelt und der Herausbildung eines breiten Mittelstands erst recht zu schwinden. Die Nähe des Strandbads zu gewerkschaftlichen Kreisen blieb jedoch bestehen, auch als die Trägerschaft 1965 vom ursprünglichen Verein in eine Stiftung überführt wurde. Von bürgerlicher Seite wurde das Arbeiterstrandbad vor dem Hintergrund des Kalten Krieges auch als «Bad Moskau» tituliert.
Einen grossen Modernisierungsschritt machte das Strandbad, als 1990 die alten Gebäulichkeiten durch ein zentrales Betriebsgebäude ersetzt wurden – gegen erbitterten Widerstand des Gründervaters Fritz Baumann. Im Jahr 2000 kam ein neues Boots- und Gruppenhaus dazu, nachdem der Sturm Lothar das Massenlager erheblich beschädigt hatte. Die bisher grösste Investition in der Geschichte des Bads erfolgte im Winter 2018/19. Für 3,7 Millionen Franken wurden unter anderem das Gebäude mit den sanitären Anlagen durch einen Holzbau mit Solaranlage auf dem Dach ersetzt sowie das Restaurant im Hauptgebäude erneuert.
Seit 2024 verwendet das Bad neben seinem historischen Namen zusätzlich den Begriff «Arbeiter*innen-Strandbad» – und erinnert daran, was schon immer sein Anspruch war: allen Menschen den Zugang zum Hallwilersee sicherzustellen.
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www.meisterschwanden.ch/dorfchronik

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